Gnorroschs Gebrummel

Gnorrosch brummelt über Politik, Software und alles andere, was ihm so durch den Kopf geht. Nicht immer tiefsinnig, aber dafür mit vollster Überzeugung.

Zurück zum Flur

Wann Bürokratie belastet

Alle Jahre wieder kommt die Diskussion um Bürokratieabbau auf, im Augenblick vor allem wegen des Extremansatzes von DOGE (in den USA) und Kettensägen-Milei (in Argentinien). Die Diskussionen verlaufen meistens im Sande, weil sie sich auf leicht zählbare Dinge konzentrieren: Die Anzahl der Behörden, die Anzahl der Beamten, die Anzahl der Gesetze.

Nun wird das Leben aber nicht leichter, wenn ich einfach die Anzahl der Gesetze verringere. Vor allem lässt sich mit dieser Zählung auch leicht Schindluder betreiben, indem ich einfach verschiedene Ur-Gesetze in Neufassung als Sammel-Gesetz verfasse. Sicher, dann habe ich anstatt fünf Gesetzen nur noch eines, aber das ist dafür genauso lang wie die ursprünglichen fünf Gesetze. (Ausnahmsweise kann das sinnvoll sein, wenn man verstreute Regeln, die sich mit dem gleichen Thema beschäftigen, in einem Gesetz zusammenfasst.) Noch deutlicher wird es sich, wenn man vorstellt, dass mehrere einfache Regeln zu einem Bandwurmsatz mit Bedingungen verschmolzen werden. Sicher, es gibt dann nur noch eine Regel, aber diese Regel lässt sich kaum noch handhaben.

Die Extreme

Um zu verstehen, wo das Problem liegt, müssen wir uns zwei Extrembeispiele ansehen: Das Verkehrsrecht und die Internationale Diplomatie.

Verkehrsrecht

Das Verkehrsrecht betrifft jeden: vom Fünfjährigen, der zum ersten Mal alleine zu Oma geht, bis hin zum Verkehrsrechtsprofessor. Von der alleinerziehenden Mutter, die mit dem quengelnden Kind auf dem Rücksitz unter Zeitdruck zu einem Termin fährt, bis hin zur pensionierten Floristin auf einer Spazierfahrt.

Ich habe also Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, die am Verkehr teilnehmen. Ein gutes Verkehrsrecht muss so einfach sein, dass Laien in einem reizüberfluteten Umfeld es befolgen können, aber trotzdem so sicher, dass niemand zu Schaden kommt.

Sicher, ich kann die Regeln in gewissen Umfang staffeln - etwa indem ich für gefährlichere Verkehrsmittel eine Prüfung vorsehe. Aber auch hier müssen die Regeln auf einem Niveau bleiben, dass sie im täglichen Miteinander nahezu unbewusst und mit hoher Fehlertoleranz angewandt werden können.

Internationale Diplomatie

Die internationale Diplomatie ist das genaue Gegenteil des Straßenverkehrs. Hier treffen Spezialisten, denen zudem ein Stab von Fachleuten zuarbeitet, aufeinander.

Kein Wort wird unbedacht geäußert, sondern zuvor von mehreren Spezialisten auf alle erdenklichen Nuancen abgeklopft. Jede Geste wird im Voraus bedacht und mehrfach geübt. Handeln und Sprache erfolgen sehr formalisiert, um Affekthandlungen zu verhindern.

Auf dieses Parkett gelangt nur, wem das entsprechende Verhalten zur zweiten Natur geworden ist. Allen Teilnehmer stehen die erforderlichen Mittel zur Verfügung, um Ablenkungen aus dem Weg schaffen zu lassen.

Die Regeln müssen also keine Rücksicht auf Schwächen nehmen, hier treten bestens unterstützte Profis auf höchsten Niveau aufeinander.

Bürokratie muss dem Umfeld entsprechen

Die Internationale Diplomatie enthält also viel mehr Bürokratie im Sinne von formalisierten Regeln als das Verkehrsrecht. Dies stellt aber kein Problem dar, weil alle Beteiligten an der Internationalen Diplomatie darauf eingestellt sind und diese Regeln erwarten. Eher werden Außenseiter, die den Regeln nicht entsprechend, als störend empfunden.

Das Problem entsteht also nicht durch die Anzahl der Regeln an sich, sondern durch das Umfeld, in dem sie gelten, und wie gut sich die ihnen Unterworfenen auf die Regeln einstimmen können.

Es dürfte offensichtlich sein, dass die Internationale Diplomatie hier viel mehr Raum für umfassende Regeln erlaubt als Verkehrsrecht. Während Verkehr alle betrifft, nehmen an der Diplomatie nur wenige teil. Während ich im Verkehr ständig von Reizen überflutet werde, findet Diplomatie in aller Regel in abgeschotteten Räumen statt.

Wäre das Verkehrsrecht so kompliziert wie die Diplomatie, dann dürften nur noch Profi-Rennsportler das Haus verlassen. Das kann nicht funktionieren.

Bürokratie entspricht oft nicht dem Umfeld

Wenn man sich einzelne Verkehrsregeln anguckt, entsprechend die vom Schwierigkeitsgrad her aber oft dem der Internationalen Diplomatie. Das ist auch kein Wunder, da große Teile des Verkehrsrechts durch die Rechtsprechung fortentwickelt wurden ohne dass der Bundestag die detaillierten Einzelregeln dann wieder zu allgemeinen Leitlinien zusammengefasst hat.

Nehmen wir beispielhaft die Frage, wer Vorfahrt hat: Ein abbiegendes Auto oder ein Fußgänger. Es kommt hier darauf an, ob der Fußgänger die Straße überquert, die das Auto verlässt oder die Straße, auf die das Auto einbiegt, wie viel Abstand er von der Straße hat, aus der das Auto abbiegt, und Kreisverkehre haben noch einmal eine eigene Regel. Die Regeln zur Vorfahrtsstraßen und „Rechts vor Links“ gelten hingegen nicht. (Und wenn dann noch Radwege hinzukommen, wird es endgültig chaotisch. Die haben teilweise nochmal andere Regeln, weil sie ein seltsames Zwischenrecht zwischen Auto und Fußgänger haben.)

Hier treffen also Verkehrsteilnehmer aufeinander, für die vollkommen unterschiedliche Regeln gelten. Allen Verkehrsteilnehmer müssen also sowohl die eigenen Verkehrsregeln als auch die aller anderen bekannt sein, um sich in dieser Situation regelgerecht zu verhalten.

In Situationen, in denen diese bewusste Verarbeitung aller zutreffender Verkehrsregeln möglich ist, brauche ich diese Regeln aber gar nicht. Denn diese Aufmerksamkeit habe ich nur bei sehr geringen Verkehr, wo ich notfalls ad hoc das Verhalten mit den anderen Teilnehmern klären kann (das berühmte „Blick aufnehmen“).

Der Alltag im Straßenverkehr ist eher Streß aufgrund von Reizüberflutung und Zeitdruck: Autos, Fußgänger und Radfahrer aus und in verschiedenste Richtungen, oft noch kombiniert mit Straßenschäden, einem Schilderdschungel, Leuchtreklamen und ggf. der Suche nach einem Parkplatz. Ich habe nur Sekundenbruchteile, um mich für ein Verhalten zu entscheiden, viel zu wenig Zeit für eine bewusste Entscheidung. Ich kann nur anhand von Faustregeln („Heuristiken“) handeln.

Garniert wird das ganze noch, weil teilweise selbst die Straßenverkehrsbehörden keinen vollständigen Überblick in das Recht haben und daher in einigen Situationen den Verkehr zu allem Überfluss noch falsch regeln (sehr beliebte Fehlerpunkte sind hier das Gehwegparken und die verschiedenen Arten von Radverkehrsanlagen).

Das Verkehrsrecht entspricht von Umfang und Verständlichkeit also weder der Situation noch dem Anwenderkreis.

Regeln haben ihren Zweck

Es dürfte aber jedem klar sein, dass es nicht einfach ausreicht, die Anzahl der Verkehrsregeln zu reduzieren. Für jede einzelne Regel gibt es einen Grund, jede wurde eingeführt, um irgendeiner Gefahr im Straßenverkehr zu begegnen. Da heute viel mehr und gefährlicherer Verkehr auf den Straßen herrscht, kann man nicht zu den Verkehrsregeln aus den 1920ern zurückzukehren – die Folge wären Unfälle, Verletzte und Tote in großer Zahl.

Eine zu große, nicht anwendbare Regelungsdichte führt aber zum gleichen Zustand als wenn es gar keine Regeln gäbe: Stärkere oder dreistere Verkehrsteilnehmer „nehmen“ sich ihr Recht und vertreiben schwächere Verkehrsteilnehmer aus deren Schutzzonen.

Dies ist übrigens auch der Hintergrund für die Beschwerden über „Radrowdys“ und „Amokfahrer“: Keiner ist sich vollkommen sicher, welche Regeln nun im Einzelfall für ihn gelten, noch weniger sicher, welche Regeln für die anderen gelten, aber jeder geht im Zweifelsfall einfach davon aus, mit seinen Faustregeln Recht zu haben. Was besonders dann zu Knatsch führt, wenn in dieser Situation eine typische Autofahrer-Heuristik nicht gilt, was der Autofahrer aber nicht weiß, sondern nur der Radfahrer (oder umgekehrt).

Die Lösung heißt: Wartung und dauerhafte Überarbeitung

Wenn die Regeln in der derzeitigen Form nicht situationsgerecht sind, eine Verringerung der Regeln aber die Situation genauso verschlechtern würde: Was kann man dann tun?

Es gibt eigentlich nur eine Lösung: Das Recht muss dauerhaft geprüft, angepasst und dabei verständlicher werden.

Für die Rechtsprechung gibt es das, den Verkehrsgerichtstag. Hier gibt es aber ein Problem: Rechtsprechung ist darauf ausgelegt, Entscheidungen in Einzelfällen zu treffen. Im Einzelfall muss man in der Nachschau (die eine juristische Betrachtung ja immer ist), oft sehr viel detaillierter an das Thema herangehen als im Augenblick des Geschehens möglich wäre. Sie ist nicht darauf angelegt, allgemein verbindliche Handlungsanweisungen zu geben. Dafür braucht es vollkommen anderer Fähigkeiten als für die Rechtsauslegung im Einzelfall.

(Ich will den Verkehrsgerichtstag nicht madig machen, der ist super. Er ist aber prinzipiell nicht dazu geeignet, das Problem Überbürokratisierung im Straßenverkehr zu lösen, weil er Verkehr vor allem als rechtliches Problem behandelt und nicht als soziales und gesellschaftliches Problem.)

Es bräuchte also eigentlich „nur“ eines dauerhaft tagenden Verkehrstages, in dem Vertreter aller betroffenen Gruppen, Abgeordnete und entsprechende Spezialisten das Recht beständig darauf prüfen, inwieweit die bestehende Regeln zu einfacheren Faustregeln kombiniert werden können. Dieses Recht müsste dann regelmäßig entweder in Form von Gesetzesänderungen oder Verordnungen aktualisiert werden.

Warum passiert das nicht?

Das ist aber einfacher gesagt als getan, weil es hier um Machtfragen geht. Irgendwer muss festlegen, welche Gruppen denn nun vom Straßenverkehr betroffen sind und in welchem Umfang. Welche Spezialisten für die entsprechenden Fragen einschlägig sind.

Diese Machtfragen ließen sich lösen, wenn es Anreize dazu gäbe, etwa Ruhm oder Einfluss. Die Art der Arbeit erfordert aber die Fähigkeit, Kompromisse zu finden und Konsens herzustellen, also eher die stille Arbeit im Hintergrund, die keine Schlagzeilen machen.

Es gibt für niemanden, der Macht und Einfluss erlangen will, einen Anreiz, ein derartiges Projekt anzuschieben:

Medien haben keinen Anreiz, darüber zu berichten, weil die Arbeit unspektakulär ist und die inkrementellen Verbesserungen im Alltag kaum bemerkt werden. Im Idealfall verhindert die Arbeit des Verkehrstages gerade Schlagzeilen, fällt also vollkommen aus dem Raster der Medien.

Politiker haben keinen Anreiz an einem derartigen Gremium teilzunehmen. Es hilft ihnen nicht, in die Schlagzeilen zu kommen, erfordert aber von ihnen geradezu, die eigenen Gestaltungswünsche zugunsten des Gremiums zurückzustecken.

Hochrangige Beamte haben keinen Anreiz teilzunehmen, weil unsichtbare Arbeit ihre Karriere nicht befördert.

Im Gegenteil: Für alle drei Gruppen - Medien, Politiker und Beamte - ist die derzeitige Überbürokratisierung förderlicher. Medien erhalten dreimal Schlagzeilen: Einmal durch Probleme im Straßenverkehr, dann durch die neu geschaffene Regeln zur Lösung und die Reaktion von Populisten auf diese Regeln. Beamte und Politiker können sich als Problemlöser inszenieren, indem sie als Reaktion auf die Berichterstattung eine neue Regel vorstellen bzw brachial für deren Abschaffung werben.

Wir haben also einen massiven Widerspruch zwischen altruistischen Wünschen nach besseren Verkehr von Politikern, Beamten und Medienschaffenden auf der einen Seite und der Funktionslogik von Medien, Politik und Amtshierarchie auf der anderen Seite.

Es braucht Institutionen, die diesen Widerspruch überbrücken

Moralische Forderungen reichen nicht, um diesen Widerspruch aufzubrechen. Dazu bedarf es Institutionen, die die Funktionslogik der drei genannten Gruppen in einer Form kanalisieren, dass sie Entbürokratisierung fördern anstatt einer weiteren Bürokratisierung.

Eine einfache scheinende Lösung für das Problem wäre, wenn die Teilnahme an derartigen Ameisen-Gremien die Voraussetzung für eine Beförderung im höheren Dienst oder einer Ernennung zum Minister oder Staatssekretär wären. Diese einfachen Lösungen hätten aber ihrerseits wieder Nebenwirkungen, weil sie dem Prinzip der Bestenauslese und Wahlfreiheit widerspräche.

Es ist unglaublich schwierig, gute und stabile Institutionen zu schaffen. Sie sind aber das einzige Mittel, um das Problem überbordender Bürokratie zu lösen. Sie erfordern, aus der derzeitigen Funktionslogik der Entscheidungsfindung auszubrechen. Solange das nicht geschieht, wird keine Reform und kein noch so brachialer Kettensägeneinsatz eine Lösung bringen.