Gnorroschs Gebrummel

Gnorrosch brummelt über Politik, Software und alles andere, was ihm so durch den Kopf geht. Nicht immer tiefsinnig, aber dafür mit vollster Überzeugung.

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Die passive Zivilgesellschaft

Eine Demokratie bedeutet mehr als nur alle paar Jahre zu wählen. Sie erfordert einen ständigen Austausch zwischen Herrschern und Beherrschten. Sie erfordert auch, dass die Beherrschten selbst handeln und Veränderungen anstoßen. Im Gegenzug verlangt es von den Herrschern, auf Kontrolle zu verzichten und den Beherrschten zu vertrauen.

Extrembeispiel Ukraine und Russland

Besonders deutlich zeigte sich dieser Unterschied während der russischen Invasion in die Ukraine. Die Ukraine konnte sich dank ihrer aktiven Zivilgesellschaft gegen den Überraschungsangriff Russlands wehren: Es fanden sich spontan Ukrainer zusammen, um Nachrichten zu sammeln, isolierte russische Soldaten anzugreifen und durch zivilen Ungehorsam russische Truppen zu binden.

Umgekehrt passierte genau das Gegenteil: Als ukrainische Truppen Teile der Region Kurks besetzten, verhielten sich die dort wohnenden Russen passiv und ließen die Besatzung über sich ergehen.

Dieses Verhalten beruhte jeweils auf politischen Entscheidungen, die der russischen Invasion vorangingen: Ukrainer hatten zuvor erfolgreich gegen politische Entscheidungen demonstriert, gleichzeitig wurden Befugnisse von staatlicher Ebene auf untergeordnete Ebenen verlagert. In Russland passierte genau das Gegenteil: Zivilgesellschaftliche Gruppen wurden durch staatliches Handeln diskreditiert und zerschlagen, sämtliche Entscheidungsbefugnisse im Kreml zentralisiert.

Veränderungen in Deutschland

Auch in Deutschland wandelte sich das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten seit dem Ende des 2. Weltkriegs.

Verschiedene Gebietsreformen seit den 1970ern erzwangen Gemeinde- und Kreisfusionen, um eine wirtschaftlichere und wirksamere Verwaltung zu ermöglichen. Tatsächlich entfielen dabei vor allem niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten in der Kommunalpolitik, während bei den großen Kostenblöcken kaum etwas eingespart werden konnte. Selbst die Einführung direktdemokratischer Elemente war in erster Linie von Misstrauen gegenüber den Bürgern geprägt, mit hohen Hürden und Ausschlusskriterien für Bürgerbegehren.

Während die Parteien bis in die 1980er hinein noch von ihren Vorfeldorganisationen abhängig waren, professionalisierten sie sich in den 1990ern und verlagerten Aufgaben von ehrenamtlichen Sympathisanten hin zu bezahlten Fachleuten. Diese fehlende Verbindung sorgte für eine Herrschaft nach Umfragewerten und ein Denken von Wahl zu Wahl.

Im Gegenzug sank das Vertrauen der Herrschenden in die Beherrschten: Förderungen für zivilgesellschaftliches Engagement wurden wesentlich kurzfristiger ausgezahlt und stärker überwacht. Die für neue Förderungen erforderliche „innovative Förderungsprosa“ sorgt dafür, dass nur entsprechend gebildete und verknüpfte Gruppen eine Förderung erhalten können. Gleichzeitig verhindert die engmaschige Überwachung der geförderten Tätigkeit jeglichen echten Fortschritt - die geförderten Tätigkeiten werden wie ein Teil der öffentlichen Verwaltung überwacht, ohne von deren Stabilität und Dauerhaftigkeit zu profitieren. (Der Staat nutzt die Geförderten wie Leiharbeiter: Extrem flexible Beschäftigte, welche die gleiche Arbeit wie regulär Beschäftigte ausüben müssen, ohne deren Absicherung zu erhalten).

Dazu kam in den frühen 2000ern der Kampf gegen den Terror und die damit einhergehende Einschränkung von Grundrechten und gleichzeitiger Aufbau von Sicherheitsstrukturen: Selbst kleine Veranstaltungen wie Wohltätigkeitsbasare in einer Schule erforderten ausgefeilte Sicherheits-Konzepte, um genehmigt zu werden.

Wie eine aktive Zivilgesellschaft aussieht

Dies alles führte zu einer Zivilgesellschaft, die sich eher auf Petitionen und Lobbying an den Staat ausrichtet als auf selbständiges Handeln. Anstatt eines Labors, in dem verschiedene Lösungen erprobt werden, wird sie zu einem Konsumenten.

Internet-Verschlüsselung

Im Jahr 2013 veröffentlichte Edward Snowden Dokumente der NSA, die bewiesen, dass die USA massiv im befreundeten Ausland spionierten. Diverse Gruppen demonstrierten gegen diese Überwachung, darunter die GRÜNEN, die Schriftstellervereinigung PEN, Digitalcourage, der CCC, die LINKE und die Piratenpartei.

Aufgrund der veröffentlichten Daten war recht schnell klar, dass einzig eine standardgemäße Verschlüsselung des Datenverkehrs im Internet der Massenüberwachung begegnen könnte. Alle deutschen Vereine und Parteien beließen es bei Eingaben gegenüber der Regierung, keine nutzte ihre organisatorische Schlagkraft, um selbst eine solche Verschlüsselung aufzubauen - obwohl das Fraunhofer-Institut mit der Volksverschlüsselung sogar technische Grundlagen dafür schuf.

Erst mit Let’s Encrypt gelang eine solche Verschlüsselung: Ein gemeinsames Projekt der Electronic Frontier Foundation, der Mozilla-Stiftung und der University of Michigan.

Die Bundestagsfraktion der Grünen hat sich bei den Vereinten Nationen über die Massenspionage beschwert. Der wurde auch verhandelt und führte zu einem Entschluss, aber es gab keine Auswirkungen. Wenn Sie diesen Aufwand betrieben hätten, um ihre Partei von einer institutionellen Mitgliedschaft bei CAcert zu überzeugen, hätte die Partei selbst als Zertifizierungsstelle für Mitglieder und Mandatsträger agieren können und so aktiv dazu beigetragen, das Internet etwas weniger abhörgefährdet zu gestalten.

Die deutschen Aufrufe an den Staat verhallten ergebnislos, weil der Staat selbst ein Interesse an der Überwachung hatte. US-amerikanisches zivilgesellschaftliches Engagement löste das Problem, weil die Betroffenen sich organisierten und einen Schutz vor staatlicher Überwachung schufen.

Heute ist ein Großteil des Datenverkehrs im Internet verschlüsselt, was eine anlasslose Datenüberwachung über Mitschneiden des Internetverkehrs stark erschwert.

Wohnungsbaukrise in Deutschland

In den 1990ern gab es ein Wohnungsbauproblem in Deutschland: Es gab einfach zu viele Wohnungen, die Bevölkerung schrumpfte, die Mieten waren niedrig, die Kommunen konnten die Kosten für ihrer kommunalen Baugesellschaften nicht mehr schultern. Infolge wurden viele kommunale Baugesellschaften privatisiert, um die enorme Schuldenlast der Kommunen abzutragen.

Gleichzeitig brach aufgrund des Zusammenbruchs der Neuen Heimat der genossenschaftliche Wohnungsbau zusammen.

Dies funktionierte kurzfristig sehr gut, doch als um 2010 die Bevölkerung wieder zu wachsen anfing, gab es keine Korrektur. Niemand erschuf neue Wohnungsbaugenossenschaften, weder kommunale noch gewerkschaftliche. Aufgrund Änderungen in der Gesetzgebung aufgrund der neoliberalen Reformen der 1990er wurde derartiger Wohnungsbau zudem erschwert. Neubau wurde privaten Anbietern überlassen, der sich auf Luxuswohnungen mit hoher Gewinnmarge stürzte, aber Sozialwohnungen vernachlässigte. Gleichzeitig unterblieb die Sanierung herabgewirtschafteter Wohnungen, wodurch sozial Benachteiligte oft in vollkommen herabgewirtschafteten Bruchbuden untergebracht werden.

Im späten 19. Jahrhundert gab es ähnliche Probleme, diese wurden unter anderem durch den genossenschaftlichen Wohnungsbau gelöst: Zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und der christlichen Arbeiterbewegungen. Sie alle sorgten dafür, dass es bis in die 1980er kaum Probleme mit Wohnraum gab.

Alle diese Gruppen rufen heutzutage nach dem Staat, er solle den Bau neuer Wohnungen ermöglichen, keine besinnt sich auf die eigene Geschichte, um das Problem selbst zu lösen.

Saisonarbeit und Subunternehmen

Saisonarbeit und Subsubsubunternehmen sind große Probleme, bekannt etwa im Bereich der Postzustellung oder der Landwirtschaft.

Im Bereich der Post gibt es mit Ver.di und der DPVKOM zwei gut aufgestellte Gewerkschaften. Beide beklagen die Ausbeutung von Postzustellern, es gibt die Kampagne Fair zugestellt statt ausgeliefert, die Gesetze für bessere Arbeitsbedingungen fordert. So weit so gut.

Wie man es noch besser macht, zeigt die Initiative Faire Landarbeit: Dort haben sich, neben der IG Bauen-Agrar-Umwelt, diverse kleinere Beratungsinstitutionen versammelt, die alle für bessere Arbeitsbedingungen in der Landarbeit kämpfen. Sie führen ebenfalls eine Kampagne durch, in der sie über Probleme in der Saisonarbeit in der Landwirtschaft aufklären.

Dabei belassen sie es aber nicht: Sie haben eine Saisonarbeiter-Mitgliedschaft entwickelt, die Saisonarbeitern die zeitlich begrenzte Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ermöglicht. Sie gehen direkt auf die Felder, um Probleme anzusprechen, und bringen Übersetzer mit, um die Verständigung sicherzustellen.

Sie gehen also über Lobbyarbeit hinaus und versuchen aktiv, bestehende Probleme zu lösen.

Fazit

In keinem der genannten Fälle können zivilgesellschaftliche Vereine ein Problem vollständig lösen. Let’s Encrypt bedarf staatlicher Förderung, um Zertifikate in ausreichendem Umfang bereit zu stellen. Auf dem Wohnungsmarkt müssen die Kommunen die (wirtschaftliche und rechtliche) Freiheit haben, um einzugreifen. Das Problem mit Saisonarbeitern und Leiharbeit kann nur gelöst werden, wenn die Arbeitsschutzgesetze besser durchgesetzt werden.

Es reicht nicht, einfach nur auf den Staat zu hoffen. Der Staat ist sehr gut darin, vorhandene Lösungen massenhaft zu verbreiten. Er ist aber (wie alle großen Organisationen) nicht gut darin, kleinteilige Probleme zu verstehen und Lösungen zu erfinden. Er ist prinzipiell schlecht darin, die Sichtweise von Außenseitern einzunehmen und eine Situation aus deren Lage zu analysieren. Der Staat braucht andere Organisationen, die diese Probleme in für ihn verständliche Lösungen übersetzen und diese Lösungen auch in kleinem Umfang auszuprobieren, um eben nicht nur eine theoretische Lösung zu präsentieren, sondern etwas, das wirklich funktioniert.